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21. Dezember 2023

Bedeutung von Kiesgruben, Steinbrüchen und Baggerseen für den Naturschutz: Paradiese aus zweiter Hand

Die Ausgangssituation

Es liegt in der Natur der Sache, dass die Rohstoffgewinnung zunächst immer einen erheblichen Eingriff in den Naturhaushalt und das Landschaftsbild darstellt. Um mineralische Rohstoffe gewinnen zu können, werden die vorhandene Vegetation und Bodenstruktur entfernt. Dies hat direkte Auswirkungen auf die biologische Vielfalt und das gesamte lokale Ökosystem samt Wasserhaushalt, Boden, Kleinklima sowie das Landschaftsbild.

Als Folge dieser mechanischen Eingriffe werden Rohböden, Gesteine und Kies freigelegt bzw. abgebaut. Im Laufe der Erdgeschichte entstanden vergleichbare Ausgangssituationen durch Gebirgsfaltungen, Eiszeiten und Vulkanausbrüche. Heute finden solche dynamischen Prozesse von Natur aus nur noch sehr selten statt, z.B. wenn Felsen abstürzen oder Hänge abrutschen, oder durch Überschwemmungen.

Mitteleuropa ist heute großflächig durch Kulturlandschaften geprägt: Wälder, Felder, Wiesen, Weiden, Weinberge, Obst- und Gemüsekulturen, Siedlungen, Gewerbe- und Verkehrsflächen bilden ein flächiges Nutzungsmosaik. Reste ursprünglicher und weitgehend unberührter Naturlandschaften finden sich – abgesehen von Kleinstandorten wie Geröllhalden, Felsen oder Quellen – heute nur noch in den Alpen und im Wattenmeer.


Uferlandschaft mit verschiedenen eingezeichneten Biotopzonen
Abbaustätten bieten eine große Vielfalt an Lebensräumen. 
Quelle: Knauf Gips KG


Abbauflächen kommt vor diesem Hintergrund eine besondere Bedeutung zu. Sie sind heute – neben militärischen und alten Industrieflächen – bei uns die einzigen offengelassenen Flächen, in denen größere neue Lebensräume und dynamische Strukturen entstehen können. Dies ist aus Naturschutzsicht bedeutsam, da solche nährstoffarmen Offenhabitate in unserer flächig überplanten, meist intensiv genutzten, strukturarmen und mit Stickstoff „überdüngten“ Kulturlandschaft fast nicht mehr existieren. Aufgrund ihres „Initialzustandes“, ihrer Nährstoffarmut und ihres oft extremen Kleinklimas sind Kiesgruben und Steinbrüche heute meist schon wenige Jahre nach Abbaubeginn Lebensraum zahlreicher seltener und gefährdeter Tier- und Pflanzenarten.

Aber auch die Vielzahl an verschiedenen Lebensräumen und Kleinklimaten auf engstem Raum nebeneinander ist ein Grund für die erstaunlich hohe Artenvielfalt vieler Abbaustätten. So finden sich in Kiesgruben und Steinbrüchen im Idealfall nebeneinander offene Wasserflächen, Röhrichte, Tümpel, Gebüsch, Kies- oder Schotterflächen, Sand- und Magerrasen, Wege, Sandflächen, Steinhaufen, Ruderalvegetation, Steilwände sowie Gehölze und Bäume.

Pionierarten und Habitatspezialisten besiedeln die Abbaustätten bereits parallel zur Gewinnung, bevor sich wenig später die ersten neuen Lebensgemeinschaften (Biozönosen) bilden. Typische Beispiele sind z.B.:

 

  • Uhu und Wanderfalke in Felsnischen,
  • Uferschwalben in Steilwänden,
  • Flussregenpfeifer auf Kiesbänken,
  • Gelbbauchunke und Kreuzkröte in Flachwasserbereichen und Fahrspuren,
  • Kleinseggenriede und Libellen an Feuchtstellen,
  • Laubfrösche in Röhrichten,
  • Ödlandschrecken,
  • Sandlaufkäfer und Wildbienen auf Sand- und Magerrasen,
  • Esparsettenwidderchen und Himmelblauer Bläuling an Futterpflanzen auf unbegrüntem Rohkies,
  • Zauneidechse,
  • Steinschmätzer und Heidelerche an Steinhaufen und auf steinigen Brachen. 

 
Wegen ihrer Kammmolche und Gelbbauchunken wurden mehrere Abbaustätten zu FFH-Schutzgebieten erklärt.


Gelbbauchunke am Ufer.
Die Gelbbauchunke ist eine gefährdete Art, die auf künstlich geschaffene Lebensräume, z.B. Baggerssen, angewiesen ist.


Sowohl in betriebenen als auch in frisch aufgelassenen Abbaustätten finden viele Arten ihre oft letzten Rückzugsflächen in einer ausgeräumten und einschlägigen Produktionslandschaft. Diese Einwanderung von Offenlandarten führt in der Regel dazu, dass in Steinbrüchen, Kiesgruben und Baggerseen meist viel mehr Arten nachgewiesen werden können als in der umgebenden Kulturlandschaft. Nicht von ungefähr werden Gewinnungsstätten daher seitens des Naturschutzes schon seit den 1980er-Jahren oft auch als „Paradiese aus zweiter Hand“ bezeichnet.

In Gewinnungsbetrieben wird fortlaufend abgebaut. Dadurch entstehen „Wanderbiotope“, die Flächen und Optionen für „natürliche Startups“ vorhalten – inklusive einer weiteren Naturschutzfunktion. So können sich auf Initialstandorten hoch spezialisierte Arten ebenso ansiedeln wie „Klimaflüchtlinge“, also Arten, die aufgrund des Klimawandels „wandern“ müssen. Auf diese Weise können sich hier neue Lebensgemeinschaften bilden, die in ihrer Zusammensetzung teilweise deutlich von den in Lehrbüchern beschriebenen „Biozönosen“ abweichen. Wissenschaftliche Begleituntersuchungen zum Ablauf der Sukzession – das heißt, die zeitliche Aufeinanderfolge der einander ablösenden Pflanzen und Tierarten – in Abbaustätten leisten daher auch einen wichtigen Beitrag zur Sukzessionsforschung.

Abbaustätten haben nicht nur deshalb eine große Bedeutung für den Naturschutz, weil sich innerhalb von Steinbrüchen und Kiesgruben eine große biologische Vielfalt findet: In ihnen entwickeln sich aufgrund der standörtlichen Dynamik und ungeplanten Sukzession auch äußerst vielgestaltige Lebensräume, die als „Trittsteinbiotope“ ergänzende Bausteine des Biotopverbunds sein können.


Abbaustätten als Beitrag zum Biotopverbund

Ein Biotopverbund wird auch als „grüne Infrastruktur“ bezeichnet. Er dient dem Ziel, die ökologischen Wechselbeziehungen in der Landschaft zu bewahren, wiederherzustellen und zu fördern. Dadurch sichert er in unseren stark zersiedelten und zerschnittenen Landschaften den genetischen Austausch zwischen den Populationen und unterstützt Ausbreitungs- und Wiederbesiedlungsprozesse. Diese sind auch im Hinblick auf die Arealverschiebungen vieler Tier- und Pflanzenarten von besonderer Bedeutung, die durch den Klimawandel hervorgerufen werden. Entsprechend formulierte die Naturschutzstrategie Baden-Württemberg aus dem Jahr 2015 auch das Ziel, im Rahmen des Biotopverbunds verstärkt Möglichkeiten für Wander- und Ausweichbewegungen der Arten sowie für dynamische Prozesse zur Klimaanpassung der Ökosysteme zu schaffen.

Diese Ziele griffen NABU und ISTE in ihrer gemeinsamen Erklärung aus dem Jahr 2018 auf. Darin formulierten sie, dass mögliche Biotopvernetzungen in allen Stadien der Gewinnung (Planung, Betrieb und Folgenutzung) weiterzuentwickeln sind. In der Naturschutzstrategie Baden-Württemberg von 2015 wurde zudem das konkrete Ziel formuliert, die rund 500 über das ganze Land verteilten Abbaustätten in den Biotopverbund einzubeziehen. Vor dem Hintergrund des Klimawandels und der damit verbundenen Artenverschiebungen stellen diese dezentralen Strukturen wichtige Trittsteine, Vernetzungselemente und Ausbreitungsinseln für Tier- und Pflanzenarten dar.

Heutzutage ist es unstrittig, dass bestehende und neue Steinbrüche und Kiesgruben einen wertvollen Beitrag zur Biotopvernetzung und damit zur räumlichen und funktionalen Kohärenz des Biotopverbunds leisten können. Vor allem kleinere, in der strukturarmen Landschaft verteilte Abbaustätten haben eine hohe Biotopverbundfunktion.

Schematischer Querschnitt durch eine Kiesgrube mit Kleinlebensräumen und ausgewählten Arten

Damit aber aktive und geplante Abbaustätten den Biotopverbund tatsächlich stärken, müssen sie entsprechend ausgestaltet und erhalten werden. Besondere Bedeutung kommt dabei den Maßnahmen im landschaftspflegerischen Begleitplan zu. Bereits bei der Planung neuer Gewinnungsstätten ist es daher wichtig, dass die Steinbrüche und Kiesgruben den Biotopverbund sowohl während als auch nach der Gewinnung langfristig stärken.

 


Karge Landschaft als Biotop
Nährstoffarme Böden und Lebensräume können Pionierstandorte für bedrohte Arten sein.


 

 


Biotopverbund in und um Abbaustätten

In jeder Abbaustätte und in deren Umfeld bestehen sowohl während als auch nach der Gewinnung vielfältige Möglichkeiten, die Biodiversität zu schützen und zu fördern. Zeitweise nicht benötigte Areale in Steinbrüchen und Kiesgruben können vorübergehend der Natur als weitere Flächen der Sukzession überlassen werden – Stichwort: „Natur auf Zeit“ und „Wanderbiotope“. Auch nach der Gewinnung können die Abbaustätten biotopverbundverträglich bzw. -förderlich nachgenutzt werden.


Der Biotopverbund kann in und um eine Abbaustätte durch folgende Maßnahmen gestärkt werden:

  • Förderung einer möglichst großen Lebensraum- und Strukturvielfalt
  • Geringe Entfernung zwischen vergleichbaren Lebensräumen für weniger mobile Arten
  • Räumliche Verknüpfung funktional ähnlicher Lebensräume (z.B. temporär wasserführende Tümpel mit Still- oder mit Fließgewässern)
  • Stärkung des Biotopverbunds innerhalb der Abbaustätte durch kleinere Trittsteinbiotope (z.B. gezielte Anlage von vegetationsfreien/-armen Tümpeln an verschiedenen Stellen)
  • Erhalt und Entwicklung linearer Biotopstrukturen wie z.B. Fahrwegränder, Förderband- und Seilbahnanlagen, Gehölze, Fließgewässer, Ränder der Steinbrüche und Kiesgruben
  • Abschirmung empfindlicher Lebensräumen gegen Nährstoffzufuhr (z.B. Magerrasen, oligotrophe Gewässer) durch entsprechende Puffer (z.B. ausreichend dimensionierte Gehölzriegel)
  • Anschluss vergleichbarer Biotop-Typen aneinander (z.B. Stillgewässer, Feuchtgebiete, Gehölzbestände, Magerrasen, Steinriegel, Felswände)
  • Wildtierfreundliche Gestaltung der Sicherheitszäune um Abbaustätten für mehr Durchgängigkeit in Hinblick auf Wildwechsel, Wildtierkorridore und Migrationsbewegungen
  • Artspezifische Maßnahmen zur Verbesserung des Biotopverbunds für wertgebende Arten mit großem Aktionsradius (z.B. Wildkatze, Luchs).


Folgenutzung: Biotopverbund und Naturschutz

Für die Entwicklung der Biodiversität - und damit auch aus Naturschutzsicht - ist es von besonderer Bedeutung, wie die Folgenutzung der Abbauflächen nach Abschluss des Abbaus aussieht. In vielen Fällen werden die ehemaligen Steinbrüche und Kiesgruben verfüllt. Hintergrund dafür sind gesetzliche Vorschriften sowie die Interessen von Kommunen, Land- und Forstwirtschaft oder der Rohstoff- und Baustoffbranche. Dadurch werden die für die Biodiversität besonders bedeutsamen nährstoffarmen Offenbodenhabitate in der Regel stark beeinträchtigt oder beseitigt. Aber auch wenn Abbaustätten verfüllt werden, kann die Folgenutzung im Sinne des Naturschutzes optimiert werden.

Eine dauerhafte Integration der Abbauflächen in den landes- und bundesweiten Biotopverbund sollte in der Folgenutzung eine weit größere Bedeutung erhalten als bisher. Aus diesem Grund ist aus Naturschutzsicht ein Sich-Selbst-Überlassen von Abbauflächen bzw. eine Renaturierung mit flexiblem Management einer Rekultivierung mit intensiver Folgenutzung eindeutig vorzuziehen. Nährstoffarmen Habitate und ein entsprechendes Strukturmosaik zu schaffen und zu erhalten sollte das primäre Ziel sein. Das gilt sowohl für die Renaturierung wie auch für die Rekultivierung.

Um dies zu ermöglichen, sollten die gesetzlich vorgeschriebenen Kompensationsverpflichtungen bereits in der Antrags- und Genehmigungsphase von Abbaustätten hinsichtlich ihrer Flexibilität geprüft werden. Ebenso sollten Spielräume im Sinne der Gestaltung zu Biotopverbundelementen genutzt werden. In jedem Fall sollten Modellprojekte zur Förderung der Biodiversität in der Folgenutzung gefördert und realisiert werden. Konkret könnten z.B. Baggerseen auch teilweise, Steinbrüche überhöht verfüllt werden, oder innerhalb forstlicher Rekultivierungen höhere Flächenanteile für Naturschutz realisiert werden. Zudem können rekultivierte Flächen neben einer möglichst naturnahen Nutzung auch als Wildnisgebiete ausgewiesen oder als Naturerfahrungs- und Naturerlebnisraum für Kinder und Jugendliche gestaltet werden

Gewinnungsstätten, in denen ökologisch bedeutsame Lebensräume geschaffen bzw. langfristig erhalten werden,  können als Kompensationsmaßnahme angerechnet werden. Daher bestehen hier nicht nur erhebliche Potenziale für ein gezieltes Biodiversitäts-Management und eine Stärkung des Biotopverbunds, sondern durchaus auch ökonomische Anreize.



 

Bedeutung von Kiesgruben, Steinbrüchen und Baggerseen für den Naturschutz: Paradiese aus zweiter Hand