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5. August 2016

Kiesabbau hat für die Natur auch gute Seiten

RADOLFZELL - Der Abbau von Rohstoffen bringt immer mehr oder weniger starke Eingriffe in die Landschaft mit sich. Viele Menschen empfänden die Abbauflächen als Wunden in der Landschaft, für manche Tierart böten sie aber auch neue Lebensräume, sagte Baden-Württembergs Umweltminister Franz Untersteller MdL jetzt bei seinem Besuch der Abbaufläche im Meichle + Mohr Werk in Radolfzell. Dabei wurde ihm auch das Buch „Entwicklung einer Kiesabbaulandschaft im Hegau am westlichen Bodensee“ überreicht.

Im Radolfzeller Stadtwald, aber auch im benachbarten Abbaugebiet in Steißlingen, wurden bearbeitete und ehemalige Abbauflächen sowie aufgeforstete Bereiche 20 Jahre lang vom Zoologen Jürgen Trautner und seinen Kollegen von der Arbeitsgruppe für Tierökologie und Planung in Filderstadt untersucht. Das Ergebnis hat Trautner in seinem Buch „Entwicklung einer Kiesabbaulandschaft im Hegau am westlichen Bodensee“ zusammengetragen: „Die offenen Kies-, Lehm- und Sandböden werden von Arten besiedelt, die in der heutigen Kulturlandschaft kaum noch Überlebensmöglichkeiten haben“, sagte der Biologe. Kreuzkröte oder Flussregenpfeifer brauchen die vom Menschen während und nach dem Abbau geschaffenen Strukturen und kommen nur auf den offenen Rohböden oder in den Tümpeln vor. Die seltene Heidelerche sei schon im Gebiet gewesen, auch rare Laufkäfer und Uferschwalben fühlen sich hier wohl. Ursprünglich waren viele Arten in dynamischen Flussauen zu Hause, die es heute aber nicht mehr gibt.

Um den laufenden Abbau und den Artenschutz zu kombinieren, müssten am Rande der Abbauflächen Ruhezonen angelegt werden, in denen Kröten und Frösche ungestörte Laichgewässer finden. Für Umweltminister Franz Untersteller ist es „die hohe Kunst“, die während des Abbaus immer wieder genutzten und neu geschaffen Lebensräume, auch über das Ende der Rohstoffgewinnung hinaus möglichst lange als Sonderstandorte zu erhalten. Weil die Flächen aber häufig für Gewerbegebiete oder Wiederaufforstung vorgesehen seien, sei es sehr wichtig die Habitate für Kreuzkröte, Flussregenpfeifer und Co. möglichst frühzeitig in die Planungen mit einzubeziehen. Die Untersuchungen in Radolfzell und Steißlingen hätten gezeigt, dass das Gelände während und unmittelbar nach Ende des Abbaus von hoher artenschutzfachlicher Bedeutung sei.

Untersteller begrüßte es, dass aufgrund der Kartierungen und der etwas ernüchternden Ergebnisse bereits Maßnahmen begonnen wurden, um die Habitate zu erhalten oder wieder herzustellen. Der Minister dankte den Gemeinden Radolfzell und Steißlingen und dem Kiesabbauunternehmer Rolf Mohr, die finanziellen Mittel für die Untersuchungen bereitgestellt zu haben und dass bereits weitere Kartierungen geplant seien. Auch der Industrieverband Steine und Erden Baden-Württemberg e.V. (ISTE) habe erkannt, dass die Verantwortung für Abbauflächen über das Ende der Förderung hinausreiche und dafür bereits im Jahr 2000 eine „Gemeinsame Erklärung zur Rohstoffnutzung in Baden-Württemberg mit dem NABU herausgegeben.

Kies- und Sandabbaustätten könnten langfristig nur dann einen hohen Wert für den Natur- und Artenschutz erlangen, wenn dieses Ziel von Beginn an in den Genehmigungsverfahren berücksichtigt werde, so der Umweltminister. Gewerbegebiete oder Wiederaufforstungen müssten zumindest auf Teilflächen ausgeschlossen werden. Wenn während der Rekultivierung darauf geachtet werde, besonders die Extremstandorte zu erhalten, würden die Chancen gut stehen, dass spezialisierte Arten auf den Flächen dauerhaft Fuß fassen können. Ehemalige Abbauflächen seien auch wichtig für den Biotopverbund. Franz Untersteller ist gespannt, wie die im Buch „Entwicklungen einer Kiesabbaulandschaft im Hegau“ zusammengefassten Empfehlungen auch für andere Flächen genutzt werden.

Steißlingens Bürgermeister Artur Ostermaier sagte, wenn man vor 20 Jahren gewusst hätte, wie man heute für die Rückzugsflächen und Untersuchungen gelobt werden würde, wäre es leichter gefallen, dafür Geld auszugeben. Rolf Mohr von Meichle + Mohr und dem Kieswerk Schray in Steißlingen hat die Untersuchungen in beiden Gebieten 1992 in Auftrag gegeben. Finanziert werden die bis heute 300.000 Euro teuren „Forschungsarbeiten“ von den Abbauunternehmen und dem bei der Stadt Radolfzell und der Gemeinde Steißlingen eingerichteten Umweltfonds. „Die Untersuchungen laufen bis 2024 und werden so weitere 175.000 Euro kosten“, sagte Rolf Mohr. Allein im Stadtwald Radolfzell fördert Meichle und Mohr auf einer Fläche von 120 Hektar Kies im Trockenabbau. Im Sommer 2009 wurde dort auch ein Schwimmbagger in Betrieb genommen, der den Kies im Nassabbau aus bis zu 60 Metern Tiefe holt.